Zum Inhalt springen

Landesschülervertreter zu neuen Corona-Regeln: “Der politische Wille für eine gute Lösung fehlt”

Veröffentlicht am 08.01.21 um 11:35 Uhr

Landesschulsprecher im Interview mit der Hessenschau

Seit Pandemiebeginn fehlt ein Konzept, die Arbeit wird größtenteils den Lehrern und Eltern überlassen – das wirft ein Sprecher der hessischen Schülervertretung dem Kultusministerium vor.

Es gibt viel Kritik am neuen Konzept der Landesregierung für den Schulunterricht nach dem Ende der Winterferien an diesem Wochenende – unter anderem von der Landesschüler*innenvertretung, die 800.000 junge Menschen vertritt. Paul Harder ist einer ihrer Sprecher. Der 17-Jährige besucht die Stufe Q1 (12. Klasse) des Goethe-Gymnasiums in Frankfurt.

hessenschau.de: Herr Harder, ab kommender Woche werden Hessens Schüler für mindestens drei Wochen in drei Gruppen eingeteilt. Fangen wir mit derjenigen an, die Sie selbst betrifft: Halten Sie den verordneten Distanzunterricht ab den siebten Klassen für sinnvoll?

Paul Harder: Zunächst freut es uns, dass die Landesregierung die Schulen nicht weiter als Einrichtungen sieht, die immun sind gegen eine Infektion mit dem Coronavirus. Angesichts der nach wie vor mangelhaften Digitalisierung vieler Schulen sind wir jedoch skeptisch, wie Distanzunterricht funktionieren soll, der über bloßes Aufgabenlösen mit Arbeitsblättern oder einer Art Frontalunterricht mit Lehrer-Präsentationen hinausgeht.

hessenschau.de: Wäre denn in den zurückliegenden elf Monaten seit Pandemiebeginn der seit vielen Jahren kritisierte Reformstau an den Schulen aufzulösen gewesen?

Paul Harder: Sicher, die Versäumnisse bestehen seit langem. Aber die Politik hätte mehr tun können, die Fortschritte seit Frühjahr sind höchstens minimal, etwa Fortbildung der Lehrer im Umgang mit digitalen Geräten.

Für Unternehmen wurden Milliarden locker gemacht, um sie zu retten – in die dringend nötige Anpassung des Schulbetriebs unter Pandemiebedingungen flossen nicht so viele Mittel. Wir haben den Eindruck, dass hier einfach der politische Wille nicht vorhanden ist. Es gibt noch immer keine ausreichenden Konzepte für einen veränderten Unterricht, nicht mal bei der Frage der Luftfilter gab es Entscheidungen.

hessenschau.de: Was wären aus Ihrer Sicht angemessene Voraussetzungen für funktionierenden Distanzunterricht?

Paul Harder: Alle Schülerinnen und Schüler müssten über eigene digitale Endgeräte verfügen. Und es bräuchte Konzepte für Lehrkräfte, wie sie einen Unterricht aus der Ferne gestalten können, der ebenso auf Dialog basiert wie im Klassenzimmer.

hessenschau.de: Schulen kritisieren, dass die Versorgung mit den in Aussicht gestellten Tablets schleppend verläuft.

Paul Harder: In manchen Fällen haben die Schulen selbst bestellt, in manchen die Kreise und Städte als Schulträger, in manchen sogar beide, so dass es mal zu wenige Computer gibt und mal sogar zu viele.

hessenschau.de: Lehrer und Eltern erheben massive Vorwürfe gegen das Kultusministerium, es mache zu wenige Vorgaben und wälze Entscheidungen auf sie ab.

Paul Harder: Da können wir nur zustimmen. Es bleibt total viel an den Eltern hängen. Weil der Distanzunterricht so mangelhaft ausgestaltet wird, bedeutet das doch am Ende, dass viele Eltern ins Aufgabenmachen eingebunden werden.

hessenschau.de: Kommen wir zu den jüngeren Schülerinnen und Schülern. Bis zur sechsten Jahrgangsstufe wird die Präsenzpflicht bis Ende Januar ausgesetzt. Einverstanden?

Paul Harder: Theoretisch gibt es die Möglichkeit für Kinder der unteren Klassen, dass sie alle in die Schule gehen – aber dann können sie keinen Abstand halten und erhöhen das Infektionsrisiko. Viele Eltern werden das nicht wollen. Also läuft es in den Klassen wohl auf eine Art Notfallbetreuung mit dem Abhaken von Arbeitsblättern hinaus, denn mehr können die Kinder zu Hause nicht leisten. Dass beides gleichwertiger Unterricht sein kann, wie Kultusminister Lorz sagt, halten wir für Augenwischerei.

hessenschau.de: Es gibt Kritiker, die sagen: Nur gar kein Unterricht wäre gleichwertiger Unterricht für die jüngeren Schüler in den Klassen und im Elternhaus.

Paul Harder: Das kann man so sagen. Die Corona-Krise deckt all die Defizite der vergangenen Jahrzehnte auf, dass es zum Teil noch Lernkonzepte wie vor 100 Jahren gibt. Wir schlugen vor, statt des vorgesehenen Lernstoffs in dieser außergewöhnlichen Zeit andere Inhalte zu vermitteln, etwa: Wie ernähren wir uns nachhaltig, was können wir für unsere Gesundheit tun? Aber das Ministerium winkte nur ab.

hessenschau.de: Schließlich die Abschlussklassen: Sie sollen als einzige nach dem Ferienende in die Schulen. Liegt Ihnen ein Konzept vor, wie das ablaufen soll?

Paul Harder: Das Kultusministerium hat am Donnerstagnachmittag eines verschickt – der Unterricht beginnt ja schon am Montag. Aber wir unterstützen diese Priorisierung: Die ältesten Schülerinnen und Schüler sollen sich auf ihren Abschluss vorbereiten können, so gut es eben geht. Ihnen sollen keine üblen Konsequenzen drohen wegen der Situation. Vielleicht teilt man die Kurse wieder wie im Frühjahr. Leere Klassenräume gibt es erst einmal genug.

hessenschau.de: Erwarten Sie, dass ab Februar flächendeckend Wechselunterricht mit geteilten Klassen kommt?

Paul Harder: Unser Eindruck ist, dass man im Kultusministerium nun Angst hat vor der vermutlich ansteckenderen Virusmutante und auf schärfere Abstandsregeln in den Schulen pocht als bisher. Die Landesschüler*innenvertretung spricht sich ganz klar für den Wechselunterricht aus, denn nur Präsenz ist zu gefährlich und Fernbeschulung unzureichend. Ich bezweifle aber, dass das klappt ab Februar.

Die Fragen stellte Stephan Loichinger.

Sendung: hr-fernsehen, hessenschau, 06.01.2021, 19.30 Uhr

Quelle: hessenschau.de