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“Es entsteht uns ein Nachteil”

Landesschulsprecherin über Abitur und Corona

Nächste Woche beginnt für die ersten Schüler in Hessen wieder der Unterricht nach der Corona-Zwangspause. Landesschulsprecherin Lou-Marleen Appuhn sieht Nachteile für den aktuellen Abitur-Jahrgang und befürwortet im Interview eine stufenweise Öffnung der Schulen.

Lou-Marleen Appuhn ist Vorsitzende der Landesschülervertretung in Hessen. Die 18-Jährige hat ihre schriftlichen Abiturprüfungen auf der Altkönigschule in Kronberg (Hochtaunus) gerade selbst hinter sich gebracht und bereitet sich auf die mündlichen Prüfungen vor.

Im Interview berichtet sie von ihren eigenen Erfahrungen mit der Schulschließung. Die stufenweise Rückkehr der Schüler ab dem 27. April unterstützt sie – allerdings unter der Bedingung, dass in den Schulen genug Seife, Papierhandtücher und Desinfektionsmittel zur Verfügung stehen. Homeschooling auf Dauer lehnt Appuhn ab, weil es ihrer Ansicht nach soziale Ungleichheiten verschärft.

hessenschau.de: Sie sind gerade im Abitur und haben nur noch die mündlichen Prüfungen vor sich. Würden Sie gern noch mal zur Schule gehen? 

Lou-Marleen Appuhn: Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sagen würde, aber ich würde tatsächlich gerne noch mal in die Schule gehen. Es ist ja ein kompletter Lebensabschnitt, den man dort verbracht hat. Und jetzt haben wir nicht mal die Gelegenheit, uns von Tutoren oder Mitschülern zu verabschieden, die uns jahrelang begleitet haben. Das ist schon sehr traurig.

hessenschau.de: Es ist eine Ausnahmesituation. Konnten Sie sich überhaupt auf ihre Abiturprüfungen konzentrieren? 

Appuhn: Ich glaube, das kommt sehr auf die Person an. Ich persönlich konnte mich gut auf die schriftlichen Prüfungen konzentrieren, weil damals alles noch nicht so bedrohlich erschien. Wir hatten keinen Unterricht mehr. Und es gab wenig Versuchungen, etwas anderes zu tun, weil ja alles geschlossen hatte.

Ich war viel zuhause und habe gelernt, was ich sonst vielleicht nicht getan hätte. Aber es gibt natürlich Leute, die gerade Eltern oder Großeltern in Risikogruppen haben, die sehr emotional mitgenommen sind und sich nicht richtig auf die Schule konzentrieren können.

hessenschau.de: Glauben sie, dass die Abiturienten dieses Jahr gegenüber anderen Jahrgängen benachteiligt sind? 

Appuhn: Ich glaube, man versucht um jeden Preis, dass das nicht passiert. Aber es wird gar nicht anders funktionieren. Die Sport-Abiturienten konnten zum Beispiel nicht trainieren. Und die mündlichen Prüfungen sind schwierig, ganz ohne den Austausch mit Lehrern.

Die Prüfungen sind auch schon eingereicht worden. Das heißt, die Lehrer haben sich darauf eingestellt, dass sie noch Stoff vermitteln können, auf den sich diese Prüfungen beziehen. Ich denke, es entsteht uns schon ein Nachteil dadurch, dass wir uns nicht mehr gemeinsam mit den Lehrern vorbereiten können.

hessenschau.de: Muss man nicht darauf reagieren, dass die Umstände völlig anders sind als in anderen Jahren – zum Beispiel in der Benotung? 

Appuhn: Wichtig ist, dass die Q4, also das jetzt laufende Halbjahr, auf keinen Fall so viel zählt wie die Halbjahre davor. Das waren vier Wochen, die jetzt so zählen würden wie ein halbes Jahr. Das ist unfair und darf aus meiner Sicht nicht passieren.

Ansonsten könnte man überlegen, ob man den Schülern offen lässt, ob sie das Abitur mit reingezählt haben möchten oder nicht. Was die schriftlichen Prüfungen angeht: die waren ja direkt nach der Schließung, da wäre im Unterricht eh nicht mehr viel gelaufen. Da ist der Nachteil nicht so groß. Aber bei den mündlichen Prüfungen muss das Niveau angeglichen werden, die müssen einfacher werden als das sonst der Fall wäre.

hessenschau.de: Wie ist der offizielle Beschluss der Landesschülervertretung dazu? 

Appuhn: Dass das Abitur ganz normal gezählt wird, damit es gleichwertig ist zu anderen Jahren. Damit es nicht heißt: “Ach, du hast 2020 Abi gemacht, das ist geschenkt gewesen.” Das soll vermieden werden, um eine Vergleichbarkeit zwischen den Schulen herzustellen.

hessenschau.de: Ist es eine gute Idee, ab kommender Woche wieder stufenweise in den Schulbetrieb einzusteigen?

Appuhn: Ich glaube, es ist dringend notwendig. Gerade für die Haupt- und Realschulen wurde ja entschieden, dass sie regulär Prüfungen schreiben sollen. Die brauchen jetzt ganz dringend die Vorbereitung der Schule. Wenn die jetzt wegfällt, dann ist das massiv ungerecht.

Ich glaube auch, dass es möglich ist, das unter verantwortbaren Bedingungen stattfinden zu lassen. Da muss darauf geachtet werden, dass ausreichend Seife, Desinfektionsmittel, Einmalhandtücher, vorhanden sind. Außerdem braucht es Konzepte zu Abstandsregelungen, eventuell auch eine Schutzmaskenpflicht in der Schule. Aber ich denke, mit dem entsprechenden Willen ist das möglich, den Unterricht für diese wenigen Jahrgänge verantwortbar durchzuführen.

hessenschau.de: Waren Sie mit in die Entscheidung des Kultusministeriums einbezogen, jetzt wieder einzusteigen mit dem Unterricht? 

Appuhn: Leider nicht wirklich. Wir wurden sehr offensiv vor dem schriftlichen Abitur gefragt, wie wir dazu stehen, ob es durchgeführt oder verschoben werden soll. Das hat uns sehr gefreut. Diesmal waren wir im Entscheidungsprozess außen vor. Ich finde schon, man sollte die Meinung der Schülerschaft einholen und in Betracht ziehen. Das hat mir sehr gefehlt.

hessenschau.de: Sie vertreten den Wiedereinstieg unter bestimmten Voraussetzungen mit. Allerdings: Schultoilette und Hygiene, da treffen doch zwei Welten aufeinander. Wie soll das funktionieren? 

Appuhn: Ja, leider. Aber das ist ja kein naturgegebener Zustand. Das liegt daran, dass die Toiletten zu wenig gereinigt werden und dass zu wenig Wert auf Seife und Handtücher gelegt wird. Das sind alles behebbare Probleme.

Ein grundsätzliches Problem ist, dass es in vielen Klassenräumen keine eigenen Waschbecken und es fast flächendeckend kein warmes Wasser gibt. Das muss langfristig behoben werden.

hessenschau.de: Gibt es überhaupt tragfähige Alternativen zum Unterricht in der Schule? Hilft das Homeschooling allen? 

Appuhn: Nein, Homeschooling führt zu einer totalen Bildungsungerechtigkeit. Einfach aus dem Grund, dass die Startbedingungen zuhause so unfassbar unterschiedlich sind. Es gibt Schülerinnen und Schüler, die haben einen eigenen Laptop, ein eigenes Zimmer und WLAN. Die können vielleicht wirklich gut zuhause arbeiten.

Aber es gibt auch Familien, da gibt es kein WLAN, da hat nicht jedes Kind einen eigenen Laptop oder einen eigenen Schreibtisch. Wie soll denn unter diesen Bedingungen genauso qualitativ gelernt werden wie wenn all diese Dinge vorhanden sind? Das führt dazu, dass die einen etwas lernen können und die anderen nicht.

hessenschau.de: Sie selbst sind 2001 geboren. Glauben Sie, dass Ihre Generation die Corona-Krise anders erlebt als ältere Generationen? 

Appuhn: Ja und nein. Natürlich erleben wir gerade alle dasselbe, aber wir erleben es auf eine andere Art und Weise. Für die jüngere Generation ist es viel selbstverständlicher, dass man Telefonkonferenzen macht und Dinge digital erledigt.

Ich glaube, die ältere Generation tut sich viel schwerer, sich auf neue Wege einzulassen. Andererseits ist es für alle ein sehr einschneidendes Erlebnis. So doof das aus Sicht einer 18-Jährigen klingt: Ich glaube, davon werden wir unseren Enkeln noch erzählen.

Lou-Marleen.Appuhn im Interview

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Das Interview führte Stefan Bücheler.

Sendung: hr-iNFO, Das Interview, 21.04.2020, 19.35 Uhr

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